Gründerin von Tausche Bildung für Wohnen leitet Summer University Camp in Witten
Zum Start der Schulferien in Nordrhein-Westfalen öffnet die Universität Witten/Herdecke ihren Campus für junge Menschen mit Interesse an wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragestellungen: Im eintägigen Summer University Camp „Machen ist wie wollen, nur krasser“ am 13. Juli entwickeln FridaysForFuture-Anhänger, nachhaltigkeitsbewusste Superheldinnen und ambitionierte Weltverbesserer von morgen gemeinsam mit Gleichgesinnten konkrete sozialunternehmerische Ideen für eine bessere Welt.
Angeleitet werden sie unter anderem von der UW/H-Absolventin Christine Bleks, die „Tausche Bildung für Wohnen e.V.“ gegründet hat.
Im Interview erzählt sie,
- wie sie „aus Versehen“ ein Sozialunternehmen gründete,
- wie man Win-Win-Win-Situationen schaffen kann und
- warum Studierende sich genau überlegen sollten, wofür sie ihr Wissen und ihre Lebenszeit im späteren Berufsleben einsetzen möchten.
Hallo Frau Bleks, Sie sind Gründerin eines Sozialunternehmens. Was bedeutet Sozialunternehmertum denn eigentlich genau?
SozialunternehmerInnen verbinden unternehmerisches Handeln mit einer gesellschaftlichen Zielsetzung und streben vorrangig die Lösung gesellschaftlicher Probleme an. Der Erfolg von Sozialunternehmen wird also nicht allein auf Basis finanzieller Profite, sondern anhand des gesellschaftlichen Nutzens und seiner positiven Wirkung bewertet.
Daher ist für mich Sozialunternehmertum Unternehmertum für Fortgeschrittene: denn es ist schon schwierig genug, Geld durch unternehmerische Tätigkeit zu verdienen – aber eine noch viel schwierigere Sache, Geld als UnternehmerIn zu verdienen und dadurch gleichzeitig ein gesellschaftliches Problem anzugehen und bestenfalls strukturell zu lösen.
Wann wurde Ihnen klar, dass Sie Sozialunternehmerin werden möchten?
Das wurde mir nicht klar. Das ist aus Versehen passiert. Mich haben schon immer gesellschaftliche Themen, wie strukturelle Ungerechtigkeiten, Missstände und Intoleranz umgetrieben, auch aus persönlichen Gründen.
Als ehemalige alleinerziehende Teenager-Mutter – mein Sohn ist jetzt erwachsen – gehöre ich zu einer benachteiligten Bevölkerungsgruppe von 2,6 Millionen Alleinerziehenden in Deutschland. Wir haben ein vier Mal so hohes Armutsrisiko wie der Rest der Bevölkerung aufgrund extremer struktureller Benachteiligungen.
Ich habe mich aber schon immer über Grenzen und Konventionen hinweggesetzt und Verantwortung sehr ernst genommen. Mit meinem Lebensentwurf habe ich wohl unbewusst gegen das verbreitete Bild der alleinerziehenden Teenie-Mutter und deren scheinbar unausweichlichen Kreislauf aus Bildungsferne, Arbeitslosigkeit, Armut, Frustration, Überforderung und Perspektivlosigkeit rebelliert. Wobei ich jeden einzelnen dieser Zustände kenne, gerne auch in verschiedenen Kombinationen.
So wurde es mir immer mehr ein Herzensanliegen, gesellschaftlich benachteiligten Kindern und ihren oft belasteten Familien einen sicheren Ort und Zugang zu Bildungsmöglichkeiten zu schaffen.
Durch die Freundschaft zu einem in Duisburg-Marxloh geborenen Türken, der allein aufgrund seiner ethnischen, kulturellen und örtlichen Herkunft gesellschaftlich benachteiligt war, entstand ein gemeinsamer Wunsch nach positiver Gestaltung.
Das 30-seitige erste Konzept zu Tausche Bildung für Wohnen enthielt nicht einmal das Wort Sozialunternehmertum, ich hatte keine Ahnung, dass es so etwas gibt. Erst in der Ausschreibung des „Act for Impact“-Wettbewerbs der Social Entrepreneurship Akademie und der Vodafone Stiftung, auf die ich zufällig stieß, las ich zum ersten Mal von Sozialunternehmertum und dachte: verdammt, es gibt ja offenbar doch einen Begriff, der genau das beschreibt, was wir wollen! Den Wettbewerb haben wir dann auch gewonnen.
Hat Ihr Studium an der Universität Witten/Herdecke sie diesbezüglich geprägt oder unterstützt?
Das Studium an der UW/H hat mir deutlich gemacht, wie privilegiert ich bin, nicht im finanziellen Sinne – ohne den umgekehrten Generationenvertrag hätte ich hier nicht studieren können – aber in der schieren Möglichkeit des Zugangs.
Was glauben Sie, wie vielen Menschen aufgrund der ihnen entgegengebrachten Vorurteile das Selbstvertrauen fehlt, sich ihren Platz in der Gesellschaft zu nehmen! Bildungsgerechtigkeit und das Märchen davon, dass man sich nur genug anstrengen muss, um dadurch alles erreichen zu können, ist ein Hohn in den Ohren sehr vieler Menschen in Deutschland und verkennt ihre Realität.
Als ich regelmäßig die Einladung von Prof. Sabine Bohnet-Joschko aus der UW/H-Wirtschaftsfakultät bekam, Tausche Bildung für Wohnen im Rahmen ihrer Seminare zum Sozialunternehmertum vorzustellen und sie mich mit einer Gruppe Studierender in Marxloh besucht hat, habe ich mich sehr gefreut, dass das Thema in der UW/H einen Platz hat.
Gerade die UW/H ist mit ihren drei Leitmotiven Zur Freiheit ermutigen, Nach Wahrheit streben, Soziale Verantwortung fördern, ihrer Organisationsstruktur und den angebotenen Studiengängen prädestiniert dafür, sich einen Namen im deutschen oder sogar internationalen Ökosystem von Sozialunternehmen zu machen. Man könnte die Uni ja selbst als Sozialunternehmen bezeichnen.
Was ist „Tausche Bildung für Wohnen“?
Tausche Bildung für Wohnen basiert auf einem mehrfach gewinnbringenden Tauschprinzip und wurde dafür bereits achtmal ausgezeichnet:
Der gemeinnützige Verein stellt engagierten jungen Menschen mietfreien Wohnraum in benachteiligten Stadtteilen wie Duisburg-Marxloh oder Gelsenkirchen-Ückendorf zur Verfügung. Diese fördern als Bildungspaten die schulische und persönliche Entwicklung der Kinder des Quartiers und bieten diesen in den sogenannten Tauschbars, den Wirkungsorten des Vereins, ein zweites Zuhause. Hier dürfen sich die Kinder durch ganzheitliche Lernförderung und attraktive Ferien- Freizeitangeboten entfalten.
Durch intensive Qualifizierung erhalten die Bildungspaten wertvolle Kompetenzen für ihre tägliche Arbeit, individuelle Entwicklung und weitere berufliche Perspektive.
Als Multiplikatoren und Botschafter unserer Haltung gestalten sie aktiv ihr Umfeld und bewirken so eine positive gesellschaftliche Veränderung.
Durch den Tausch von mietfreiem Wohnraum für eine Bildungspatenschaft schaffen wir so eine Win-Win-Win-Situation für Kinder, engagierte Bildungspaten und benachteiligte Stadtteile – und damit eine langfristige Perspektive für die Region.
Haben Sie es je bereut, sich für eine soziale Sache zu engagieren anstatt beispielsweise viel Geld bei einem großen Konzern zu verdienen?
Nein.
Mir ging es mit Tausche Bildung für Wohnen so wie mit meinem Sohn auch. Ab Tag eins arbeitet man als Eltern ja daran, die Kinder in die Selbstständigkeit zu geleiten, sie immer unabhängiger werden zu lassen, bis es uns am Ende nur noch aus der Ferne braucht.
Es macht unendlich viel Arbeit, man quält sich durch lange Nächte, hat viele Sorgen, weiß eigentlich nicht, wie es geht, was richtig ist und wie sich das Kind entwickeln wird und es kostet ordentlich Geld. Aber aufgeben ist doch keine Option!
Bei all der Liebe, die sich durchs Teilen vermehrt, durch Überzeugung und dem tiefen Gefühl einen wirklichen Unterschied im Leben anderer Menschen zu machen, kam mir ein Leben im Konzern nicht gerade als Verheißung vor.
Aber ehrlicherweise hätte ich auch nichts dagegen, mehr Geld zu verdienen, denn es reicht immer nur zum täglichen Überleben.
Hier muss ebenfalls dringend ein Umdenken stattfinden und wir Sozialunternehmer müssen viel selbstbewusster auftreten, denn in den Köpfen der allermeisten Menschen darf „richtig Geld verdienen“ nicht in die Nähe kommen von sozialer und gemeinwohlorientierter Arbeit.
Wissen Sie, wie oft Sozialunternehmer angefragt werden, über ihre Arbeit zu sprechen, Vorträge oder Workshops zu halten und dies mit der Erwartung verknüpft ist, dafür lediglich die Fahrtkosten und Spesen zu übernehmen? Niemand würde auf die Idee kommen, dies von einem erfolgreichen Tech-StartUp oder jungen Unternehmensberater zu verlangen. Da könnte ich an die Decke gehen!
Nun möchten Sie beim Workshop „Machen ist wie wollen, nur krasser“ an der UW/H Ihr Wissen weitergeben? Warum?
Armut und Hunger bekämpfen, die Klimakrise stoppen, gerechtere Bildungschancen und Geschlechter-Gleichheit herstellen, für Menschenrechte und Frieden einstehen, das Leben an Land und unter Wasser schützen, nachhaltiges und verantwortungsvolles Wirtschaften – die globalen Aufgaben für unsere Welt-Gesellschaft sind vielfältig, ernst zu nehmen und können nur gemeinsam und mithilfe der nächsten Genration gelöst werden.
Junge Erwachsene prägen die Gesellschaft, Wirtschaft und Politik von morgen und sollten somit möglichst früh die Erfahrung machen, wie sie einen weltverbessernden Einfluss auf Veränderungsprozesse haben und diesen aktiv gestalten können. Sozialunternehmertum ist eine wunderbare Möglichkeit, sich für eine bessere Welt einzusetzen.
Wir möchten in dem Workshop junge Leute inspirieren, ihr Studium oder ihren Beruf nach einer gesellschaftlich verantwortungsbewussten Zielsetzung auszuwählen und dadurch selbst gestaltend in die Welt einzugreifen.
Was erwartet die Teilnehmenden dort?
In dem eintägigen Workshop „Machen ist wie wollen, nur krasser“ werden wir uns den 17 Nachhaltigkeitsziele der UN, den Grundzügen des Sozialunternehmertums, Beispielen von eingeladenen GründerInnen bis zu den eigenen Ideen der TeilnehmerInnen widmen.
In kleinen angeleiteten Teams werden die TeilnehmerInnen in einem intensiven Prozess kreative Herangehensweisen, Methoden, u.a. angelehnt an Design Thinking und (Social)Business Modeling, und unternehmerisches Denken kennenlernen, um wirkungsorientierte Lösungen für die großen gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit zu kreieren.
Am Ende des Tages werden die TeilnehmerInnen wissen, was Sozialunternehmen sind, wie sie zu erkennen sind, was sie antreibt, welch große Herausforderungen sie mit sich bringen und wie sie selbst eigene Ideen entwickeln und in eine Form bringen können, die dann zur Gründung führen können – aber auch, wie viel Spaß es macht, sich mit anderen konkrete Ideen für eine bessere Welt zu überlegen.
Warum ist es wichtig, dass sich mehr junge Menschen in Sozialunternehmen engagieren?
In Sozialunternehmen engagiert man sich nicht, wie man sich ehrenamtlich engagiert. Sozialunternehmer zu sein, bedeutet Unternehmer zu sein, in einem Sozialunternehmen angestellt zu sein, bedeutet faktisch das gleiche, wie in einem „normalen“ Unternehmen angestellt zu sein – dort engagiert man sich ja auch nicht hauptamtlich, dort arbeitet man.
Ich hoffe, dass möglichst viele junge Menschen, besonders auch diejenigen mit dem Wunsch, etwas Wirtschaftliches oder Management zu studieren, sich genau überlegen, wofür sie ihr Wissen und ihre Lebenszeit einsetzen möchten: für eine bessere, gerechtere und gesündere Welt – das können sie durch Sozialunternehmertum erreichen.
Die UW/H mit ihren Management-Studiengängen ist ein guter Ort für junge Menschen, die eine exzellente Ausbildung möchten und die Zukunft unternehmerisch mit gestalten wollen. Prof. Sabine Bohnet-Joschko und ich arbeiten jetzt gemeinsam daran, sozialunternehmerische Ansätze im Managementstudium weiter zu stärken und sichtbarer zu machen.
Über den Autor:
Die Universität Witten/Herdecke (UW/H) nimmt seit ihrer Gründung 1982 eine Vorreiterrolle in der deutschen Bildungslandschaft ein: Als Modelluniversität mit rund 2.600 Studierenden in den Bereichen Gesundheit, Wirtschaft und Kultur steht die UW/H für eine Reform der klassischen Alma Mater. Wissensvermittlung geht an der UW/H immer Hand in Hand mit Werteorientierung und Persönlichkeitsentwicklung.
[…] Daraus entstand auch „Tausche Bildung für Wohnen e.V., womit Christine bundesweit viel Aufmerksamkeit erregte. Für seine Innovationskraft erhielt der gemeinnützige Verein acht Auszeichnungen und wurde von der Bundeskanzlerin gelobt. […]