Healthcare-Startup mynoise: Onlinetherapie für Tinnitus-Patienten
Dass Dr. Uso Walter kein ganz gewöhnlicher HNO-Arzt ist, kann man besonders mittwochs beobachten, wenn seine Praxis für zwei Stunden geschlossen ist. Dann sitzt Dr. Walter während der Mittagspause an seinem Schreibtisch, blickt in die Webcam und hält einen Kurzvortrag über ein Thema rund um sein Spezialgebiet Tinnitus.
Das Video lädt er auf seinen Youtube-Kanal hoch, um punkt 15 Uhr geht es online.
Für seine Online-Patienten bieten diese Videos immer neue und kostenlose Informationen zu ihrer Krankheit. Für Uso Walter bedeuten die Videos noch etwas anderes: Content Marketing für sein Healthcare-Startup mynoise, mit dem er Patienten mit chronischem Tinnitus eine komplette Online-Therapie anbieten möchte.
Im Interview erzählt der HNO-Arzt, wie er zum Startup-Gründer wurde.
Hallo Herr Walter. Beim Startup-Wettbewerb Get in the Ring haben Sie im vergangenen Jahr den Deutschland-Entscheid in Dortmund gewonnen und vor kurzem beim West-Europäischen Finale in London um einen einzigen Punkt den ersten Platz verpasst und damit die Teilnahme am Finale in Kolumbien. Ärgerlich?
Ganz im Gegenteil! Die Teilnahme am Finale wäre zeitlich und finanziell ein enormer Aufwand gewesen. Wir haben in London alles erreicht, was wir wollten: Wir hatten die Aufmerksamkeit, vor allem die der Investoren und haben uns da auch ganz gut verkaufen können. Mit einigen Investoren sind wir im Gespräch, das sieht momentan alles ganz gut aus.
Mit Ihrem Healthcare-Startup mynoise bieten Sie Tinnitus-Patienten eine Online-Therapie an. Wie kamen Sie als Arzt auf die Idee, eigene Produkte zu entwickeln?
Tinnitus-Behandlung mache ich schon sehr lange. Eine Tinnitustherapie besteht immer aus verschiedenen Bausteinen. Hier in meiner Praxis kann ich zwar Beratungsleistungen oder auch verschiedene Therapieleistungen erbringen.
Aber mir wurde immer mehr bewusst, dass es auch Lücken gibt. Dazu gehörten akustische Therapieverfahren für Patienten mit einer bestimmten Tinnitus-Frequenz. Einen chronischen Tinnitus kann man nicht übers Ohr, sondern nur über die Gehörverarbeitung im Gehirn behandeln. Solche Patienten kann man mit akustischen Verfahren gut therapieren. Aber dazu gab es kein passendes Produkt auf dem Markt.
Da habe ich mir irgendwann gesagt: Dann mache ich das eben selber. Das war sozusagen der Startschuss zu mynoise.
Wie sind Sie an die Entwicklung einer Online-Therapie herangegangen?
Zusammen mit einem Toningenieur habe ich zunächst erstmal nur spezielle Audiodateien für eine akustische Tinnitus-Behandlung entwickelt, die Patienten entsprechend ihrer Tinnitus-Frequenz von unserer Website downloaden können.
Ich habe dann schnell gemerkt, dass online noch viel mehr möglich ist und dass Tinnitus-Patienten auch viel mehr fehlt, nämlich vor allem eine Verhaltenstherapie.
Als Tinnitus-Patient in Deutschland eine Verhaltenstherapie zu bekommen, ist sehr schwierig. Man findet kaum jemanden, der so etwas anbietet und wenn doch, dann muss man sehr lange auf einen Therapieplatz warten.
Da ist die Idee entstanden, solch eine Therapie online anzubieten. Vor allem aus Skandinavien gibt es dazu Studien, die belegen, dass man Verhaltenstherapien mit entsprechend interaktiven Tools sehr gut online machen kann.
Solch eine Online-Verhaltenstherapie ist nach dem akustischen Verfahren unser nächstes Produkt, bzw. sogar das Hauptprodukt, das wir im Laufe dieses Jahres entwickeln. Dazu haben wir entsprechende Fachleute, Psychologen beispielsweise, mit im Boot und arbeiten auch mit der Charité zusammen.
Als Arzt mit eigener Praxis ist man zwar selbstständig, als Unternehmer wird ein Arzt aber nicht unbedingt wahrgenommen. Wie war bei ihnen der Schritt vom Arzt zum Unternehmer?
Das ist eigentlich das traurige Schicksal unseres Gesundheitssystems, dass die einen etwas von Gesundheit verstehen und die anderen von Wirtschaft, aber keiner von beidem. Deswegen sind viele Leistungen so teuer und umständlich und für die Patienten schwer erreichbar.
Ich habe für mich irgendwann eine Primärentscheidung treffen müssen: Entweder ich mache das, was die Kasse bezahlt, dann mache ich aber eine Medizin, von der ich nicht überzeugt bin. Oder ich mache das, was die Patienten brauchen, was aber oft nicht von der Kasse bezahlt wird.
Wenn man als Arzt eine vernünftige Versorgung anbieten will, dann muss man über die Grenzen der Kassen-Medizin hinausgehen. Das hat für mich einen Umdenkungsprozess in Gang gesetzt.
Dabei war eine Frage, wie man Patienten vermitteln kann, dass es etwas gibt, das medizinisch sinnvoll ist, aber von der Kasse nicht bezahlt wird.
Ein zweiter Punkt war, dass man als Arzt in der Praxis immer eine Eins-zu-eins-Situation mit den Patienten hat. Ich erzähle also oft 20 bis 30 Mal am Tag das gleiche, im exakt gleichen Wortlaut und mit den exakt gleichen Gesten.
Wir haben mit zwei Ärzten hier in der Praxis bis zu 180 Patienten am Tag in der Sprechstunde. Das kann man nicht mehr steigern. Deswegen die Idee, bestimmte Leistungen oder Behandlungen, bei denen sich das anbietet, ins Internet auszugliedern.
Zu gucken, was online zur Behandlung von Patienten möglich ist, das war und ist für mich Dreh- und Angelpunkt unserer Firma.
Unser Ziel ist es, eine komplette Online-Therapie für Tinnitus-Patienten anzubieten. Das ersetzt nach wie vor nicht den Arzt! Der muss die Diagnostik vornehmen und die Indikation stellen.
Aber die Therapie durchzuführen, das blockiert zum einen die Praxis und wird zum anderen nicht von der Kasse bezahlt. Und das ist die Lücke, die man mit einer Online-Therapie füllen kann. Und wir sind relativ sicher, wenn das gut funktioniert, dass es auf lange Sicht die Kassen auch bezahlen.
Wie viele Patienten nutzen schon die mynoise-Therapie und welches Feedback bekommen Sie?
Seit wir vor zwei Jahren gestartet sind, haben etwas mehr als 500 Patienten die Therapie gemacht. Feedback holen wir aktiv ein.
80 Prozent der Patienten sagen, dass ihr Tinnitus besser geworden ist – wenn sie die Audiodateien konsequent nutzen. Die Nutzungsquote liegt ca. zwei Drittel.
Auf welche Hürden sind Sie als Startup-Gründer gestoßen, die Sie als Arzt gar nicht auf dem Schirm hatten?
Ich bin da vielleicht etwas blauäugig rangegangen, habe aber sehr schnell gemerkt, dass es sehr viele gesetzliche Bestimmungen zu beachten gibt – von der Firmengründung angefangen, mit Gewerbeanmeldung, mit steuerlicher Trennung vom Praxisbetrieb, mit Medizinprodukteanmeldungen.
Gerade die Anmeldung von Medizinprodukten ist nicht sehr nutzerfreundlich. Allein, um das Medizinproduktegesetz zu durchschauen, habe ich ein halbes Jahr gebraucht, trotz professioneller Hilfe. Dazu kommen Namensrechte und Patentanmeldungen – da sind einige Aktenordner schon gefüllt.
Trotz der Hürden ist für mich das Reizvolle, dass wir hier Neuland betreten. Man ist in gewisser Weise Pionier und kann sein medizinisches Wissen auch mal in andere Bereiche einbringen, während der Praxisalltag ja überwiegend Routine ist. Wenn man das fünf Tage die Woche macht, ist man am Ende der Woche platt, aber auch nicht viel glücklicher.
Wenn man aber sieht, wie sich die Firma entwickelt, die Patienten positives Feedback geben, die Nutzerzahlen steigen und sich dann auch Investoren interessieren, da macht das auch Spaß und da weiß man auch, dass man auf dem richtigen Weg ist.